Tagebuch eines reisenden Yogalehrers – TEIL 3

Tagebuch eines Yogalehrers

Liebe Freundin, lieber Freund, alles ist ausgetauscht! Der Thymian mit dem Klappertopf, der Rosmarin mit dem Nieswurz, der Lavendel mit dem Edelweiß. Sie erraten es: Ich habe mein italienisches Dorf verlassen und bin in der tiefsten Schweiz. Meine Nase zielt gerade auf den Luzerner See und ich frage mich, ob ich das Gewässer rechtzeitig überqueren kann; ich muss in zwei Stunden in einem Hotel sein, auf der anderen Seite des Ufers, wo ich zwei Wochen Yoga unterrichte. Soll ich mit dem Schiff fahren oder dem Bus? Klar: Ich entscheide ich mich für das Schiff, getreu dem Motto eines Zen Meisters: ´Wenn du es eilig hast, mach einen Umweg.` Doch während ich am Pier auf das Schiff warte, frage ich mich, zweifelnd: ´Hätte ich mich anders
entscheiden sollen?` Gefolgt von der Frage: ´Hätte ich mich anders entscheiden können?`

Tagebuch Yogalehrer Teil 3_1
Blick auf die Altstadt von Luzern.

Arthur Schopenhauer, ein deutscher Philosoph, sagt: ´Ein Mensch kann tun, was er will, jedoch nicht anders wollen, als er will.` In Rom nannte ich diesen Gedanken vor einer japanischen Yoga-Schülerin und sie blickte mich verwirrt an. So sagte ich ihr: „Sehen Sie, meine Liebe, Sie kommen in meinen Yogaunterricht nicht aus freien Stücken. Sie denken es, doch in Wahrheit verhält es sich ganz anders. Sie sind ganz frei sich zu entscheiden, in meinen Unterricht zu kommen oder nicht. Und Sie sind frei, einen Kopfstand zu machen oder nicht. Doch Ihr Wille, den können Sie nicht verändern. Und so heißt es eben: ´Ich kann tun, was ich will, jedoch nicht anders wollen, als ich will.` Ein Unterschied zwischen Handlungs- und Willensfreiheit.“ Die Schülerin blickte mich noch immer verwirrt an, zweifelnd an mir oder am Kulturgut deutscher Philosophie, und so sagte ich zu ihr: ´Sehen Sie, im Grunde spielt das alles für uns Yogis keine Rolle. Achten Sie schlichtweg auf Ihren Atem, das soll genug sein für heute.` Sie schien glücklich darüber und ging zurück an Ihre Atemübung, welche sie, anders als Schopenhauers Gedanke, nicht einengte, sondern von Ihren Sorgen befreite.

Tagebuch Yogalehrer Teil 3_2

Mittlerweile war ich im Hotel angekommen, es war Abend und ich saß still auf meinem Meditationskissen. (Die Odyssee, welche mich hierher geführt hatte, im Bus, erspare ich dem Leser. Nur vier Silben: Ich kam pünktlich!). Die Frage, ob ich einen freien Willen habe, beschäftigt mich auch heute, wo ich kein Philosophiestudent bin, sondern Yoga- und Meditationslehrer. Doch die Frage beschäftigt mich auf andere Weise. Anstatt mich mit Büchern zu füttern und mit Theorien über Wasser zu halten, achte ich schlichtweg auf meinen Atem. Vielleicht dazu eine kleine Übung, lieber Leser: Achten Sie, gerade jetzt, fünf Minuten auf Ihre natürliche Ein- und Ausatmung. Kommt es Ihnen nicht wie ein Automatismus vor? Im Grunde sind es nicht Sie, der atmet, sondern Sie werden geatmet. Und verhält es sich nicht so auch mit unserem Herzschlag, unseren Nieren, unserer Lunge … Welchen Einfluss haben wir darauf, und: als wie frei können wir gelten, da wir so abhängig von all diesen lebensbedingenden Prozessen sind? Wenn nicht ich es bin, der atmet, so muss ich zwangsweise sagen: ich werde geatmet. Wenn nicht ich es bin, der den Rhythmus meines Herzens vorgibt, so muss ich sagen: mein Herz wird geschlagen. Und so mit allen anderen Prozessen. Oder irre ich in eine dunkle Ecke, in welche kein Licht fallen mag? Und werde doch zu theoretisch?

Ich schicke Ihnen einen schönen Gruß aus der Schweiz, liebe Freundin, lieber Freund, und lasse Sie heute mit mehr Fragen als Antworten zurück. Fühlen Sie sich frei, mir einen Brief zu schreiben und Ihre Gedanken zu äußern. Halten wir es vielleicht am Ende mit George Berkeley, einem irischen Yogi des 17.Jahrhunderts, welcher für den Satz einstand: Esse est percipi – ´Sein ist wahrgenommen werden`. Oder in unserem (etwas veränderten) Sinne gefasst: Nehmen wir uns als freie Wesen wahr, so sind wir frei. Unabhängig, an welchen Fäden wir hängen. – Es grüßt herzlich, Ben, freier Yogalehrer und Schriftsteller.

[yellowbox]Ben ist gerade in fünf Lehrern als Yogalehrer unterwegs und schreibt dabei regelmäßig für Asanayoga. Teil 1 seiner Reise findest du hier, Teil 2 der Reise kannst du hier lesen, hier ist Teil 3. Folgt Ben außerdem auf seinen beiden Websites: als Yogalehrer & als Schriftsteller.[/yellowbox]

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